Vertical Farming: Wachstumszweig oder Pflanzerei?

15.07.21

Gemüse soll künftig verstärkt drinnen wachsen. Das ist gesünder, schont Klima und Boden, sagen Befürworter von Vertical Farming. Wäre da nicht die Sache mit dem Energieverbrauch.

In der Lagerhalle, durch die Philipp Bosshard stapft, ist alles grau: die Wände, die Stahlträgerkonstruktion an der Decke, der Boden und der Staub, der die Sohlen seiner Schuhe bei jedem Schritt weiter eintrübt. Dass die leere, graue Halle schon bald ergrünen soll, ist kaum vorstellbar.

Nicht weniger als 20 Tonnen Lebensmittel sollen bald jedes Jahr die Halle in Niederhasli, unweit von Zürich, verlassen. Das Schweizer Start-up und ETH-Spin-off Yasai, das Bosshard mitgegründet hat, plant hier eine Pilotanlage, die demonstrieren soll, wie Landwirtschaft in Zukunft funktionieren kann: Statt draußen auf dem Feld wachsen Basilikum, Minze, Rucola und Co hier indoor vertikal auf sechs Stockwerken, hermetisch abgeriegelt von der Außenwelt.

In den letzten Jahren sind immer mehr Start-ups aus dem Boden geschossen, die Vertical Farming als das nächste große Ding in der Lebensmittelindustrie preisen. Einige von ihnen, wie Bowery und Plenty aus den USA oder Infarm aus Deutschland, haben jeweils über vierhundert Millionen US-Dollar von Investoren eingesammelt. Sie wollen schon bald Grünzeug aus der Halle in die Supermarktregale bringen – oder haben es bereits getan.

Aber ergibt das wirklich Sinn?

Landwirtschaft ist in ihren Grundzügen seit Jahrtausenden erprobt: Man setzt Samen in die Erde und erntet später. Verlegt man sie in Gebäude, wird der Ackerbau zur Wissenschaft. Statt Sonnenlicht bestrahlen spezielle Lampen die Blätter von Pflanzen, nicht Regen und Wind, sondern komplexe Belüftungs- und Bewässerungssysteme halten sie am Leben.

Kontrollierte Bedingungen

Neolandwirte wie Bosshard von Yasai beteuern, dass man so ideale, kontrollierte Bedingungen schaffen kann – wenn es sein muss sogar für jede einzelne Pflanze. Die 20 Tonnen, die Yasai pro Jahr produzieren will, sollen auf nur 585 Quadratmetern wachsen. Der Ertrag wäre rund 15-mal höher als unter freiem Himmel.

Die Natur soll beim Indoor Farming draußen bleiben – vor allem die Schädlinge. Weil das künstliche Ökosystem so empfindlich ist, muss es penibel gegen äußere Einflüsse geschützt werden. "Man kann sich das ein bisschen so vorstellen wie einen Reinraum", sagt Bosshard. "Wir wollen die Zeit reduzieren, die ein Mensch sich in der Farm aufhält." Deshalb arbeite Yasai schon an einem Kamerasystem, das mithilfe künstlicher Intelligenz Schädlinge erkennt und direkt interveniert. Auf den großflächigen Einsatz von Insekten- und Unkrautvernichtungsmitteln kann man so verzichten. Das System soll außerdem nur ein Zwanzigstel von dem benötigen, was ein Feld draußen so schluckt.

14.000 Uniqa-Tower für Wien

Auch Nahrungsmittelsicherheit spielt eine zunehmend größere Rolle. Die Corona-Krise hat gezeigt, wie sehr die Landwirtschaft vom Ausland abhängt. Wenn Obst und Gemüse nicht schon direkt aus anderen Staaten kommen, sind es oft die Saisonarbeiterinnen und -arbeiter, die zur Ernte anreisen und oft unter prekären Bedingungen auf den Feldern arbeiten.

Die große Zukunftsvision ist daher, das Essen dort zu produzieren, wo es auch gegessen wird. Statt jeden Tag Lkws vom Umland in die Städte rollen zu lassen, sollen Pflanzenhochhäuser die Skylines der Städte zieren. Infarm geht sogar noch einen Schritt weiter: In einigen deutschen Supermärkten wächst das Gemüse bereits vor den Augen der Kundinnen und Kunden. Wenn zwischen Ernte und Verzehr im Idealfall nur Stunden liegen, schmeckt man das auch – und gesünder ist es obendrein, argumentiert die Community der vertikalen Landwirte. Aber geht sich das überhaupt für alle aus?

Daniel Podmirseg vom Wiener Vertical Farming Institute hat es sich ausgerechnet. Würde man im Uniqa-Tower am Donaukanal Landwirtschaft betreiben und ihn 14.000-mal duplizieren, könnte man die Hauptstadt ernähren. Das klingt nach viel, es wären aber nur rund acht Prozent aller Gebäude in Wien. Damit wäre auch wirklich der gesamte Kalorienbedarf der Wienerinnen und Wiener abgedeckt – und man könnte sich im Gegenzug Äcker in der Fläche des Burgenlands einsparen.

Ob es eine gute Idee ist, 14.000 Häuser in einer vom Wohnungsmangel geplagten Stadt für Pflanzen zu reservieren? Die Zahl diene nur der Illustration, sagt Podmirseg. "Aber eine Verknappung an Fläche lasse ich mir trotzdem nicht einreden." In Österreich gibt es 40.000 Hektar an Leerstand, vieles davon ist Industriebrache, die sich gut für Vertical Farming eigne. Auch Flachdächer könnte man nachverdichten.

Rechnung geht oft (noch) nicht auf

In Japan gab es nach dem Fukushima-Unglück, aus Sorge vor Kontaminierung, einen regelrechten Boom an Gemüsefabriken. Eine von ihnen produziert seit letztem Jahr 30.000 Salatköpfe pro Tag. Betrieben werden sie ironischerweise hauptsächlich mit Atomstrom. Die Energiefrage trifft die Achillesferse des sonst so sauber und nachhaltig anmutenden Konzepts des Vertical Farming. Drinnen nachzubauen, was die Natur draußen gratis und ohne CO2-Fußabdruck verschenkt, wirkt für viele befremdlich.

"Wenn man es falsch macht, ist es ein energetisches Desaster", sagt Podmirseg. Will man das Indoor-Gärtnern ökonomisch und nachhaltig betreiben, muss man sich schon sehr gut überlegen, wo und was man anbauen will. Obst- und Olivenbäume – das ergibt in die Höhe angebaut keinen Sinn, weil die Bäume zu tief wurzeln, andere Pflanzenarten wie Kartoffeln sind draußen sinnvoller, weil der Flächenbedarf pro Kopf schon sehr gering ist.

Momentan geht die Energierechnung oft nicht auf – aber das könnte sich ändern. Podmirseg rechnet vor: Ein Quadratmeter Tomaten benötigt indoor etwa 270 Kilowattstunden Strom, draußen fallen durch die Sonne pro Jahr etwa 1200 Kilowattstunden Sonnenenergie ein – aber nicht alles kommt in der für Pflanzen nutzbaren Wellenlänge daher. Mit effizienteren Solarzellen könnte man einen Großteil der Sonnenenergie auffangen, drinnen könnten Leuchten diese in das ideal abgestimmte Pflanzenlicht verwandeln. Oder man lässt die Sonne doch herein – und schaltet bei Bedarf Lampen dazu.

Reinraumflair, in weiße Anzüge gehüllte Mitarbeiter mit Klemmbrett – nicht jedem schmeckt das Bild, das oft vom Indoor Farming gezeichnet wird. Dass es anders geht, zeigt das Unternehmen Umami. Dessen Räumlichkeiten im sechsten Stock eines Zürcher Bürogebäudes kann grundsätzlich jeder betreten, der sich vorher anmeldet, auch ohne Biohazard-Anzug. Dort schlägt einem sofort feuchte Hitze entgegen, wie man sie aus dem Tropenhaus im Zoo kennt. Gepflanzt wird hier in mehrstöckigen Holzregalen, steril ist hier nichts – und das ist so gewollt.

Nachgebautes Ökosystem

Nicht möglichst wenige, sondern möglichst viele Tier- und Pflanzenarten will Umami in seinem Minibiotop haben, auch wenn sie später nicht verkauft werden. Sie sollen das System in Balance halten – wie eben in der Natur. Momentan produziert Umami auf rund 120 Quadratmetern Microgreens – das sind Sprösslinge von Erbsen, Sonnenblumen und mehr – für rund 300 Schweizer Supermärkte und Restaurants. Angedacht sind aber auch Shrimps, Muscheln oder Fische, deren Ausscheidungen wiederum Nährstoffe für die Pflanzen produzieren sollen. Mit den großangelegten Farmen, wo auf zigtausenden Quadratmetern Salat wächst, hat das wenig zu tun. "Das ist die Monokultur des Urban Farming", sagt Luca Grandjean von Umami. "Wir wollen ein naturnahes künstliches Biotop schaffen." Das sei auch robuster gegen Schädlinge.

Ob Biotop oder Monokultur – Indoor Farming klingt trotzdem so wie die Antithese zur biologischen und naturnahen Landwirtschaft. Leo Marcelis, Professor für Gartenbau an der Universität Wageningen, glaubt trotzdem, dass die Produkte Abnehmer finden werden. Ackerbau sei immer ein Eingriff in der Natur – selbst wenn er noch so bio und sanft ist. "Wenn man beim Vertical Farming alles richtig macht, können wir der Natur wieder mehr Fläche zurückgeben", sagt Marcelis. Und das würde wohl auch Naturfreaks gefallen.